Wie Pandemieleugner*innen an ihre Atteste kommen und die Folgen für uns alle

In der aktuellen Berichterstattung der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) wird über die negativen Erfahrungen berichtet, die Menschen mit einem Attest zur Befreiung der Maskenpflicht, zum Beispiel beim Einkaufen, gemacht haben. So wird in der Ausgabe vom 8. Oktober von einem 34-Jährigen berichtet, der trotz einer Befreiung im Media Markt nicht oder nur erschwert einkaufen konnte. In der Ausgabe vom 11. Oktober berichtet die NOZ von weiteren Betroffenen, die sich der Redaktion gemeldet haben. Auch bei der Antidiskriminierungsstelle der Stadt Osnabrück würden sich Beschwerden darüber häufen. 
 
Für den schwierigen und sicherlich auch teilweise inakzeptablen Umgang des Einzelhandels gibt es allerdings auch nachvollziehbare Gründe. Seit Beginn der Pandemie regt sich Widerstand gegen die cononabedingten Maßnahmen, wie der Maskenpflicht in bestimmten Lebensbereichen. Die Fokussierung dieses Widerstandes bündelt sich in selbsternannten „Bürgerbewegungen“, „Querdenken“-Initiativen oder anderen teils konspirativen Zusammenschlüssen, über deren Umtriebe in Osnabrück wir regelmäßig berichten. Innerhalb dieser Zusammenschlüsse werden Erfahrungen zur Umgehung der vorgeschriebenen (und in großen Teilen nachvollziehbaren) Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ausgetauscht. So werden dort u.a. Empfehlungen ausgesprochen, welche Ärzte in der Region besonders attestfreudig wären und welche nicht zu empfehlen seien. Diese werden dort namentlich genannt. Außerdem wird sich über Symptome ausgetauscht, die man gegenüber Ärzt*innen schildern sollte, um die Chancen einer Maskenbefreiung zu erhöhen. Empfohlen werden Symptome von Atemwegserkrankungen, aber auch das Behaupten oder Schildern von traumatischen Erlebnissen. So schildert einer der Administratoren der Telegram-Gruppe und Hauptorganisator der Osnabrücker Protestbewegung Juan-Claudio Bedla, wie er seine Befreiung erhalten hat: „Meine Befreiung ist psychischer Natur. Ich hab einfach gesagt, mein Stiefvater hat mich früher mal geschlagen und den Mund zugehalten. Seitdem hab ich Trauma, wenn ich irgendwas vor dem Gesicht habe. Ob es ein Visier ist oder Mundschutz ist. Ich krieg dann Panikattacken und kann einfach nicht dieses Ding tragen. Joa, hab dann Attest bekommen. Beim Hausarzt und nicht beim Psychologen“ (Sprachnachricht in der Telegram-Gruppe am 7.9.2020). Unabhängig vom Wahrheitsgehalt seiner Aussage handelt es sich bei dem mannigfaltigen Austausch über die Maskenbefreiung um eine Pervertierung realer Bedürfnisse einzelner Betroffener. Und das nicht nur beim Einkaufen. 
 
An der Kundgebung der Osnabrücker „Bürgerbewegung“ [sic] am 31. Oktober rund um den Hauptbahnhof nahmen etwa 250 Personen teil, von denen etwa 100 Personen den mäßig bemühten 15 Beamt*innen der Polizei ein Attest vorgezeigten und sich daraufhin ohne Maske mitten unter die Kundgebung mischten. Ein ähnliches Verhältnis trifft auf fast alle derzeit stattfindenden Corona-Demonstrationen zu. Auf der Kundgebung auf dem Ledenhof, eine Woche zuvor, bot sich ein ähnliches Bild. Von den etwa 100 Teilnehmer*innen ließen sich gut die Hälfte durch ein Attest von der Maskenpflicht polizeilich befreien. In Leipzig nahmen am vergangenen Wochenende etwa 20.000 Menschen teil. Das Abstands- und Maskengebot wurde dabei massiv verletzt. Erst nach etwa zwei Stunden nahm die Polizei dies zum Anlass, die Versammlung aufzulösen. Dies hatte ein unkontrolliertes Fluten der Stadt zur Folge und wurde von der Polizei toleriert. Ob Osnabrück oder Leipzig; diese Menschen gehen nach den Kundgebungen wieder zurück in ihren Alltag, wie Familie oder Beruf, und verbreiten eine mögliche Infektion weiter. Eine Nachverfolgung von Infektionsketten, nach solchen Ereignissen wie in Leipzig, ist unmöglich. Zudem ist eine aktive Mitwirkung der Beteiligten nicht zu erwarten. 
 
Innerhalb der Telegram-Gruppe der „Bürgerbewegung“ [sic] werden Videos, Bilder und Audionachrichten ausgetauscht, in denen Reaktionen von Verkäufer*innen provoziert und dann skandalisiert werden. Auch hier werden Beteiligte namentlich genannt. Ob mit oder ohne Attest werden Geschäfte ohne MNS betreten, um im Anschluss zu schildern, wie die Reaktionen ausfielen. Geschäfte werden empfohlen oder, wenn diese auf eine Maske bestehen, zum Boykott aufgerufen. Solche Aktionen und der inflationäre Umgang mit den Attesten ist der Grund, weshalb die real Betroffenen so Schwierigkeiten bekommen, ihren Alltag zu bewältigen und das macht uns wütend. Ebenso werden wir alle uns bei ihnen „bedanken“ können, wenn die Corona-Maßnahmen erneut erweitert werden und z.B. das Versammlungsrecht eingeschränkt wird. Als Reaktion auf die, auch gewalttätigen, Vorkommnisse in Leipzig, werden in Sachsen zukünftig Versammlungen auf 1000 Menschen begrenzt. Andere Bundesländer planen ähnliche Begrenzungen. Auf solche Verschärfungen reagiert die Szene kreativ und erklärt ihre Versammlungen zu einem Open-Air-Gottesdienst (München am 2.11.) oder widmet sich in Selbsthilfegruppen um, um sich so auflagenfrei versammeln zu können. Eine staatliche Reaktion darauf wird mit weiteren Einschränkungen – für alle – folgen. 
 
Wir alle schränken uns gerade ein, um die Auswirkungen der Pandemie kleinzuhalten und Risikogruppen zu schützen. Wir verzichten auf private Treffen, auf Partys, Konzerte oder Besuche von unseren Familien und Freund*innen, während wöchentlich mehrere hunderte oder tausende Menschen öffentlich und unter Aufsicht der Behörden Coronapartys feiern. Das produziert Kopfschütteln, Frust und sicherlich große Abneigung bis hin zu tiefer Verachtung. Nicht nur bei uns! 
 
Unser Mitgefühl gilt den Menschen, die unter dieser zutiefst unsozialen und egoistischen Bewegung und deren Auswirkung leiden; dazu gehören ausdrücklich auch die Beschäftigten des Einzelhandels.